P.-Y. Donzé: History of the Swiss Watch Industry

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Title
History of the Swiss Watch Industry. From Jacques David to Nicolas Hayek


Author(s)
Donzé, Pierre-Yves
Published
Bern 2011: Peter Lang/Bern
Extent
161 S.
Price
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Remo Grolimund, Schweizerischer Erdbebendienst Historische Seismologie, ETH Zürich

Sowohl in ökonomischer Hinsicht als auch mit Blick auf die Imagepflege ist die Uhrenindustrie einer der wichtigsten Wirtschaftszweige der Schweiz. Deshalb ist es bemerkenswert, dass ihre jüngere Geschichte schwer zugänglich und relativ unbekannt ist. Der Zugang zur Geschichte der Schweizer Uhrenindustrie im 19. und 20. Jahrhundert führt über einen unübersichtlichen Flickenteppich von Monographien, die sich meist auf bestimmte Firmen, Unternehmer oder, seltener, auf eine Region konzentrieren sowie über halb- bis unwissenschaftliche Repräsentationsschriften aus dem Firmenumfeld. Eine vertiefte Gesamtdarstellung mit Übersichtscharakter fehlte bislang. Der Anspruch des hier besprochenen Werkes[1] ist, diese historiographische Lücke zu schliessen.

Aus einer vorwiegend wirtschafts- und strukturgeschichtlichen Perspektive stellt Pierre-Yves Donzé die Leitfrage, wie es der Schweizer Uhrenindustrie trotz schwieriger Umstände und harter ausländischer Konkurrenz und Globalisierungsdruck gelungen sei, seit dem 19. Jahrhundert ihre vorherrschende Stellung in der Weltwirtschaft zu behaupten. Schwerpunkte des Buches sind die «spezifische Struktur» (particular structure, S. 2) des Uhrensektors, die kommerzielle Entwicklung des Aussenhandels und die Organisation der Industrie im Zusammenspiel von Interessengruppen und Behörden. Diese Aspekte werden mit einer Vielzahl von Tabellen, Statistiken, unternehmensgeschichtlichen Fallbeispielen sowie Exkursen über die Industrien anderer Länder illustriert. Zwar verspricht der Autor auch eine sozialgeschichtliche Herangehensweise (S. 2). Jedoch werden z. B. die soziale Frage oder die menschlichen Kosten der Strukturwandlungsprozesse für die Arbeiterschaft nur ganz am Rande abgehandelt.

Als kompaktes Überblickswerk, das die in den letzten Jahren entstandenen monographischen Studien synthetisiert und die Entwicklungen in einen weiteren zeitlichen Kontext stellt, liegt hier zweifellos eine unverzichtbare Referenz für den Zugang zur neueren Geschichte der Uhrenindustrie vor. Der Rahmen von rund 160 Seiten erscheint allerdings erstaunlich knapp bemessen, um den diversen Veränderungen der «spezifischen Struktur» im Untersuchungszeitraum und dem heterogenen Charakter der Branche Rechnung tragen zu können.

Donzé gliedert den Untersuchungszeitraum in vier Perioden. 1800–1870 ist die Zeit der Etablissage: eine Art arbeitsteiliges Netzwerk von kleinen Produktionseinheiten, von Donzé charakterisiert als eine Art von Heimarbeit und Handwerk geprägtes Verlagssystem. [2] 1870–1918 wird dieses in einem «langsamen, aber unumkehrbaren Trend» (S. 27) von der industriellen Produktion abgelöst. In der Periode 1920–1960 bildet die Branche ein Kartell und ist durch das sogenannte Uhrenstatut gesetzlich reguliert. 1960–2010 steht unter dem Zeichen der Liberalisierung und Globalisierung, wobei die Uhrenindustrie zunächst in eine tiefe Krise schlittert, aus der sie sich nur durch Konzentration zu Firmengruppen, massive Rationalisierung und Neuausrichtung des Marketings befreien kann.

Während der reiche Fundus an Fallgeschichten und Zahlenmaterial, der die deskriptive Erzählung begleitet, durchs Band beeindruckt, ist für die analytische Ebene ein Qualitätsunterschied zwischen den ersten beiden Perioden einerseits und den zweiten andererseits festzustellen. Eine Erklärung für diesen Umstand ist, dass der Versuch, gemeinsame Nenner für eine kompakte makroökonomische Erzählung zu finden, mindestens bis zur Bildung des Uhrenkartells in der Überforderung münden muss. Die Branche ist bis dahin so heterogen – diverse Produktionsmodelle
und Unternehmensformen, professionelle und lokale Diversifikation – dass nicht von der Schweizer Uhrenindustrie als solche die Rede sein kann. Zwar bemüht sich der Autor, diese Komplexität mit teils etwas ausschweifenden Fallgeschichten und der Ausweitung des Kontextes – Uhrmacherschulen, Finanzierungsmodelle, Werkzeugmaschinenindustrie usw. – abzudecken. Dennoch folgt er in der allgemeinen Analyse der klassischen Erzählung einer evolutiven Ablösung der Etablissage durch die «moderne» Fabrik (z. B. S. 27), ausgelöst unter dem Eindruck der grossen Depression (1873–1896) und der Konkurrenz industrialisierter US-Grossbetriebe. Dabei versäumt er, den Befund neuerer Studien, dass diese Linearität als Konstruktion einer normativen Fortschrittsper-spektive zu relativieren sei, zu reflektieren. [3] Er unterschlägt damit sowohl wesentlich frühere Industrialisierungsschritte verschiedener Betriebe und Branchenzweige als auch die Kontinuität von Strukturmerkmalen der Etablissage bis weit ins 20. Jahrhundert indem sich die Branche zu einem Industriedistrikt konstituiert – notabene eine von Donzé als Erfolgsfaktor beschriebene Organisationsform.

Die Analyse der Entwicklung im 20. Jahrhundert. überzeugt hingegen weitestgehend. So zeigt Donzé etwa, dass die oft als Auslöser der Uhrenkrise der 1970er und 80er genannte Quarztechnologie lediglich ein Verstärker struktureller Probleme war: die durch Kartell und staatliche Intervention verzögerte industrielle Konzentration in einem Marktumfeld, in dem es zunehmend nicht mehr primär darauf ankam, die Uhr produzieren, sondern sie verkaufen zu können. Die Schweizer Uhrenindustrie war zu fragmentiert, um gegenüber japanischer oder amerikanischen Grossunternehmen, die konsequent auf Massenproduktion und strategisches Marketing setzten, konkurrenzfähig auftreten zu können.

Zitierweise:
Remo Grolimund: Rezension zu: Pierre-Yves Donzé: History of the Swiss Watch Industry. From Jacques David to Nicolas Hayek. Bern, Peter Lang, 2011. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 63 Nr. 2, 2013, S. 305-307.

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Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 63 Nr. 2, 2013, S. 305-307.

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